Es ist ein Skandal, dass hochqualifizierte Fachkräfte wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Pflegekräfte und andere medizinische Fachkräfte nicht selbstständig arbeiten dürfen, sondern nur unter der direkten Aufsicht eines Arztes. Während Heilpraktiker mit einem Nachweis, dass sie keine Gefährdung darstellen, selbstständig Heilkunde ausüben können, werden kompetente medizinische Berufsgruppen systematisch eingeschränkt. Diese absurde Regelung führt dazu, dass wertvolle Kompetenzen verloren gehen und man sich gleichzeitig über mangelnde Ressourcen beklagt.
Einleitung:
Die Akademisierung im Gesundheitswesen verfestigt Hierarchien und führt nicht automatisch zu einer effektiven, patientenzentrierten Versorgung. Solange ausschließlich Ärzte die Erlaubnis haben, die Heilkunde selbstständig auszuüben, bleiben die strukturellen Probleme ungelöst und die Versorgung ineffizient. Diese Dominanz blockiert notwendige Reformen und behindert die Integration wichtiger medizinischer Kompetenzen anderer Berufsgruppen, was letztendlich zu einer schlechteren Arbeitszufriedenheit und geringerer Qualität der Patientenversorgung führt.
Heilpraktiker werden als selbstständige Erbringer der Heilkunde zwar geduldet, sind jedoch im System nicht anerkannt und werden aufgrund des fehlenden Zugangs zur Versorgungsstruktur der gesetzlichen Krankenkassen in eine Nische gedrängt. Ihre Ausbildung ist zudem sehr inhomogen: Jeder kann ohne medizinische Ausbildung Heilpraktiker werden und selbstständig Heilkunde ausüben, solange er die in den Leitlinien zur Heilpraktikerprüfung definierten Kenntnisse zur Abwendung eines Schadens für die Volksgesundheit nachweist. Es bedarf keinerlei nachgewiesener Kompetenz zur Erbringung zielführender oder evidenzbasierter Leistungen.
Gleichzeitig sind viele hochqualifizierte Fachkräfte wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Pflegekräfte in ihrer Arbeit eingeschränkt. Diese Berufsgruppen verfügen über fundiertes Wissen und wertvolle Kompetenzen, die jedoch durch die bestehende Regelung, dass nur Ärzte die Heilkunde selbstständig ausüben dürfen, nicht vollständig zur Geltung kommen. Dies führt nicht nur zu einer ineffizienten Nutzung der vorhandenen Ressourcen, sondern auch zu einer unzureichenden Patientenversorgung und zunehmenden Belastungen der Berufsgruppen, Ärzte eingeschlossen.
Das Gesundheitswesen steht vor zahlreichen Herausforderungen, die von zunehmender Unterversorgung bis hin zu steigenden Kosten und knappen Ressourcen reichen. Trotz umfangreicher Reformen und Bemühungen, die medizinische Versorgung zu verbessern, bleiben viele strukturelle Probleme ungelöst. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die bestehenden Hierarchien und Ineffizienzen durch die aktuell im Vordergrund stehende Akademisierung medizinischer Berufe weiter verfestigt werden.
In diesem Artikel geht es nicht darum, die Akademisierung im Gesundheitswesen in Frage zu stellen, sondern vielmehr darum, die Diskussion über ihren Auftrag und ihre Möglichkeiten anzuregen. Wir beleuchten die strukturellen Hindernisse, die durch die Dominanz der Ärzte entstehen, und zeigen auf, wie eine Neuausrichtung der Rollen und Verantwortlichkeiten zu einer besseren Arbeitszufriedenheit und einer höheren Qualität der Patientenversorgung führen könnte. Wissenschaftliche Forschung in allen Bereichen der medizinischen Aktivitäten ist die Grundlage einer evidenzbasierten Arbeit, die sich an die Regeln des Clinical Reasoning hält.
Aktuelle Situation im Gesundheitswesen:
Das deutsche Gesundheitssystem sieht sich mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. Zum einen gibt es eine zunehmende Unterversorgung in ländlichen Gebieten, wo Patienten oft lange Wartezeiten und weite Wege in Kauf nehmen müssen, um medizinische Hilfe zu erhalten. Laut einer Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) aus dem Jahr 2021 geben über 25 % der Menschen in ländlichen Gebieten an, dass sie Schwierigkeiten haben, zeitnah einen Arzttermin zu bekommen [^Hoerold et al., 2021] Gleichzeitig werden die Ressourcen – sei es in Form von Personal oder finanziellen Mitteln – immer knapper.
Finanzielle Ressourcen
Steigende Kosten belasten sowohl die Krankenkassen als auch die Patienten. Die Ausgaben für das Gesundheitswesen in Deutschland stiegen im Jahr 2022 auf über 440 Milliarden Euro, was einem Anstieg von rund 4% im Vergleich zum Vorjahr entspricht [^Gesundheitsausgaben nach Leistungsarten]
Fachkräftemangel
Es gibt einen deutlichen Fachkräftemangel in vielen Bereichen des deutschen Gesundheitssystems. So auch in den Therapieberufen wie Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Schon 2016 wurde in sieben Bundesländern ein klarer Mangel an Physiotherapeuten ermittelt. Bis 2019 stieg diese Zahl auf 14 Bundesländer an, wobei lediglich in Hamburg kein Fachkräftemangel festgestellt wurde und in Bremen aufgrund zu weniger Daten keine Beurteilung vorgenommen werden konnte. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte 2021: „Mittlerweile spüren die Krankenhäuser verstärkt den Fachkräftemangel und haben trotz großen Engagements erhebliche Probleme, offene Stellen im Bereich der Physiotherapie zu besetzen“[^Fachkräftemangel in Therapieberufen]
Der Mangel an Pflegekräften wird besonders deutlich:
Wir wissen, dass 2030 circa 500.000 Pflegekräfte fehlen werden.
Eine vakante Stelle in der Pflege bleibt heute im Schnitt circa 240 Tage unbesetzt.
Christine Vogler, Präsidentin Deutscher Pflegerat (DPR)
Eine Studie des Marburger Bundes aus dem Jahr 2017, auf die wir im April 2013 hingewiesen haben, zeigt, dass angestellte Ärztinnen und Ärzte in Deutschland unter hohem Arbeitsdruck, Personalmangel und zunehmender Bürokratie leiden. 66 % der Krankenhausärzte haben nicht genügend Zeit für die Behandlung ihrer Patienten. Die Arbeitsbedingungen werden von 46 % als „mittelmäßig“ und von 24 % als „schlecht“ oder „sehr schlecht“ bewertet. 19% der Befragten erwägen, den Beruf aufzugeben. Die Ärzte wünschen sich mehr Zeit für Privatleben, weniger Bürokratie und mehr Personal. Viele arbeiten 49-59 Stunden pro Woche oder mehr. Die Studie fordert Entbürokratisierung und verbindliche Personalvorgaben. Doch die Situation hat sich nicht verbessert wie eine gleichartige Studie im Jahr 2022 zeigt [^MB-Monitor 2022]
Demografischer Wandel
Hinzu kommt die steigende Versorgungsnotwendigkeit aufgrund des demografischen Wandels und der höheren Lebenserwartung. Laut dem Statistischen Bundesamt wird die Zahl der Menschen im Rentenalter (67 Jahre oder älter) bis Mitte der 2030er Jahre um etwa 4 Millionen auf mindestens 20 Millionen steigen. Zudem wird die Zahl der über 80-Jährigen relativ stabil bleiben, bevor sie ab Mitte der 2030er Jahre massiv ansteigen wird.[^Statistisches Bundesamt]
Dieser Anstieg der älteren Bevölkerung geht mit einer erhöhten Häufigkeit von altersbedingten chronischen Erkrankungen und Multimorbidität einher. Das bedeutet, dass das Krankheitsspektrum sich verändern und das Gesundheitssystem entsprechend angepasst werden muss, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Das Robert Koch-Institut weist darauf hin, dass mit zunehmendem Alter das individuelle Risiko für Krankheiten und Multimorbidität steigt, was das Gesundheitssystem weiter unter Druck setzt[^Holzhausen et al., 2011]
Prävention und Lifestyle-Änderungen
Der Bereich der Prävention und Lifestyle-Änderungen im Gesundheitssystem wird stark vernachlässigt. Präventive Maßnahmen und die Förderung eines gesunden Lebensstils könnten langfristig die Gesundheitskosten senken und die Lebensqualität verbessern, werden jedoch im aktuellen System nicht ausreichend berücksichtigt. Zahlreiche Studien zeigen die vorbeugende Wirkung von körperlicher Aktivität auf die Gesundheit. Regelmäßige körperliche Aktivität erhöht das psychische und physische Wohlbefinden, verringert das Risiko für das Auftreten verschiedener physischer und psychischer Erkrankungen und führt zu niedrigeren Sterblichkeitsraten. Diese positive Wirkung betrifft unter anderem kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, Tumorerkrankungen, Osteoporose, Depression und Angsterkrankungen [^Jordan et al., 2012]
Trotz der nachgewiesenen Vorteile von präventiven Maßnahmen und Lifestyle-Änderungen wird dieser Bereich in der Praxis oft vernachlässigt. Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 369 € pro Einwohnerin bzw. Einwohner für Prävention und Gesundheitsschutz ausgegeben. Dies entspricht einem Anteil der Präventionsausgaben an den Gesundheitsausgaben von 6,47%. Den Höchstwert erreichte der Anteil der Präventionsausgaben im Jahr 2021 mit 6,47 %, den niedrigsten Wert im Jahr 1998 mit 3,26 %. (nach Diabetes Surveillance - Präventionsausgaben)
Warum die Akademisierung diese Probleme nicht löst
Die Akademisierung bezeichnet den Prozess, durch den Berufe oder Berufsgruppen, die traditionell durch eine praktische Ausbildung geprägt waren, zunehmend akademische Qualifikationen und Hochschulabschlüsse erlangen. Dieser Wandel geht einher mit der Einführung von Studiengängen an Hochschulen und Universitäten, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und methodischen Ansätzen basieren.
Geschichte des Begriffs und der Akademisierung
Der Begriff "akademisch" leitet sich vom griechischen "Akademeia" ab, einem Hain bei Athen, wo Platon im 4. Jahrhundert v. Chr. seine philosophische Schule gründete. Im Mittelalter entstanden Universitäten wie die Universität Bologna (1088) und die Universität Paris (1150), die als Zentren des akademischen Lebens fungierten. Hier wurden Theologie, Philosophie, Medizin und Recht gelehrt.
"Platons Schule galt der Ausbildung späterer Politiker, aber auch dem freien Denken. Die Akademie war eine Lebensweise. Denn Bildung ist ja nicht etwas, das man in eine Person wie in einen Topf hineinschüttet; sie ist Formung, Kultivierung der Person und das braucht Zeit. Aristoteles soll 17 Jahre in Platons Akademie verbracht haben, bevor er fortzog, um Alexander den Großen zu unterrichten." [^Rettet die Akademie]
Mit der Renaissance erlebten die Wissenschaften eine Wiederbelebung. Im 17. und 18. Jahrhundert brachte die Aufklärung weitere Fortschritte, und wissenschaftliche Akademien wurden gegründet. In Deutschland gilt die Einheit von Forschung und Lehre als zentrales Prinzip des modernen Hochschulsystems. Es geht zurück auf Wilhelm von Humboldt im 19. Jahrhundert. Forschung und Lehre sollten eng miteinander verknüpft sein, um eine umfassende akademische Bildung zu gewährleisten. Der Schwerpunkt der Bildung wurde auf die Anwendung um Umsetzung wissenschaftlicher Arbeitsweisen gelegt.
Der Begriff "Akademisierung" selbst gewann im 20. Jahrhundert an Bedeutung, als immer mehr Berufe begannen, akademische Standards und Abschlüsse zu integrieren. Dies war Teil eines breiteren Trends, bei dem die wissenschaftliche Methodik und das universitäre Wissen an Einfluss gewannen. Dies stellt eine universitäre und akademische Sichtweise in den Vordergrund der Lehre. Angetrieben von der Erkenntnis, dass eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung notwendig ist, um den komplexen Anforderungen der modernen Zeiten gerecht zu werden.
Professionalisierung vs. Akademisierung
Berufe im Gesundheitswesen haben vor der Akademisierung eine lange Tradition der Professionalisierung durch spezialisierte Ausbildung, berufliche Standards und ethische Richtlinien. Diese Berufe hatten schon immer ein hohes Maß an Fachwissen und Praxisorientierung.
Die Veränderung durch die Akademisierung besteht darin, dass universitäre und akademische Sichtweisen betont wurden. Es bedeutete die Einführung wissenschaftlicher Methoden und theoretischer Fundierung in die Ausbildung auch dieser Berufe. Die akademische Ausbildung ergänzte bisherige Ausbildungsinhalte durch wissenschaftliches Denken und Forschungskompetenzen. Somit wurde die bestehende Professionalität durch eine zusätzliche wissenschaftliche Dimension erweitert.
Dies war ein bedeutender Schritt zu einer erweiterten Professionalisierung und Spezialisierung der medizinischen Berufe. Die erste Akademisierung eines nicht-ärztlichen medizinischen Berufs in Deutschland begann in den frühen 1990er Jahren mit der Pflege. Dies markierte den Beginn einer umfassenden Transformation der Ausbildung in Gesundheitsberufen. Im Laufe der Jahre folgten weitere Berufe wie Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie.
Die Hauptintentionen der Akademisierung umfassten die Verbesserung der Versorgungsqualität, die Förderung wissenschaftlicher Forschung und Innovation sowie die Steigerung der Attraktivität der Gesundheitsberufe durch höhere Bildungsstandards und berufliche Aufstiegsmöglichkeiten. Ziel war es, die Fachkräfte auf einen hohen Bildungsstandard zu bringen, um eine qualitativ hochwertige und evidenzbasierte Versorgung sicherzustellen. Durch die stärkere Einbindung in die Forschung sollten neue Behandlungsmethoden und Therapien entwickelt werden, die die Patientenversorgung weiter verbessern. Höhere Bildungsstandards und bessere berufliche Aufstiegsmöglichkeiten sollten zudem die Attraktivität der Gesundheitsberufe steigern und somit dem Fachkräftemangel entgegenwirken.
Weitere Motivationen waren die Anpassung an demografische und epidemiologische Veränderungen, die Verbesserung der Patientensicherheit und die Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit. Die Akademisierung sollte sicherstellen, dass Gesundheitsfachkräfte besser auf die veränderten Versorgungsbedarfe vorbereitet sind und die erforderlichen Kompetenzen besitzen, um die Patientensicherheit zu erhöhen. Die Fähigkeit zur interprofessionellen Zusammenarbeit sollte gestärkt werden, um den steigenden Anforderungen an eine sektorenübergreifende und interdisziplinäre Versorgung gerecht zu werden.
Auch die berufliche Weiterentwicklung und Durchlässigkeit der Ausbildungsstrukturen waren zentrale Aspekte, um individuelle Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten und die berufliche Zufriedenheit zu steigern. Technologischer Fortschritt und Innovation sollten besser genutzt werden können, und die Angleichung der Ausbildungsstrukturen an internationale Standards sollte die Anerkennung beruflicher Abschlüsse in anderen Ländern erleichtern und Deutschland wettbewerbsfähiger machen [^Hochschulrektorenkonferenz]
Allerdings zeigt sich, dass akademische Ausbildungen stark auf theoretisches Wissen und wissenschaftliche Methodik fokussiert sind, wodurch praktische Erfahrung und subjektive Evidenz oft auf der Strecke bleibt. Dies führt zu einem Ungleichgewicht, bei dem wichtige praktische Kompetenzen und Erfahrungen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Zudem besteht eine Diskrepanz zwischen dem Erkenntnisgewinn der verschiedenen Berufsgruppen und deren Wirksamwerden in der Praxis. Die Hoffnung, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten, wird so lange nicht realisierbar sein, solange Ärzte die einzige Berufsgruppe sind, die eigenverantwortlich die Heilkunde erbringen darf.
Die ursprüngliche Idee der akademischen Bildung umfasste eine ganzheitliche Formung des Individuums, die über reine Wissensvermittlung hinausging. Diese Idee wurde im Laufe der Jahrhunderte transformiert und in eine einseitige Richtung gelenkt. Es ist wichtig, das gesamte Verständnis ursprünglicher akademischer Ideen zu etablieren, um die Balance zwischen theoretischem Wissen und praktischer Erfahrung wiederherzustellen und eine umfassende und patientenzentrierte Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
Das etablierte Rollen- und Hierarchieverständnis wird durch die akademische Ausbildung nicht automatisch verändert. Trotz gesteigerter Qualifikationen und erweiterten wissenschaftlichen Verständnisses bleiben die traditionellen Hierarchien bestehen. Ärzte behalten ihre dominierende Rolle, da sie weiterhin die einzige Berufsgruppe sind, die eigenverantwortlich die Heilkunde ausüben darf. Diese Struktur verhindert eine echte Zusammenarbeit auf Augenhöhe und blockiert das volle Potenzial interprofessioneller Teams. Solange die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen unverändert bleiben, können andere Gesundheitsberufe ihre erweiterten Kompetenzen nicht vollständig in die Praxis umsetzen.
Es bedarf des sozialen Lernens und eines wachsenden Respekts im Sinne alter akademischer Grundideen, wie Platon mit der Betonung der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen es ausdrückte, oder Aristoteles, der die Bedeutung der Tugenden und die Entwicklung des Charakters in der Bildung hervorhob. Selbst Wilhelm von Humboldt, der die Einheit von Forschung und Lehre einführte, betonte, dass Bildung mehr sei als reine Wissensvermittlung.
Die aktuell verfestigte Hierarchie führt zu einem ineffizienten Gesundheitssystem, in dem wertvolle Ressourcen und Fachwissen ungenutzt bleiben. Um die Versorgungsqualität tatsächlich zu verbessern und eine patientenzentrierte Versorgung zu gewährleisten, muss die Struktur des Gesundheitssystems so reformiert werden, dass alle Gesundheitsberufe gleichberechtigt und eigenverantwortlich arbeiten können.
Akademisierung vs evidenzbasierte Medizin
Es ist unbestritten, dass die evidenzbasierte Medizin von zentraler Bedeutung für die Qualität der Gesundheitsversorgung ist. Evidenzbasierte Medizin ist nicht nur ein Konzept oder eine Methode, sondern eine Philosophie, die das medizinische Denken und Handeln grundlegend verändert hat. Evidenz basiert auf der Prämisse, dass medizinische Entscheidungen auf der Grundlage der solidesten verfügbaren Forschungsergebnisse getroffen werden sollten. Diese Ergebnisse stammen typischerweise aus systematischen Übersichtsarbeiten, Meta-Analysen und randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), die den Goldstandard für klinische Studien darstellen (siehe Evidenzbasierte Medizin – Ein Pfeiler der Qualität im Gesundheitswesen) Jedoch erst die Kombination der drei Säulen einer Evidenzbasierten Medizin (studienbasierte Evidenz, klinische Expertise und Patientenpräferenzen) ermöglichen eine umfassende, maßgeschneiderte und effektive medizinische Versorgung der Patienten.
Die Einführung wissenschaftlicher Methoden und forschungsbasierter Erkenntnisse ist unverzichtbarer Bestandteil des modernen Erkenntnisgewinns. Hieraus ergibt sich die Forderung das Fachkräfte im Gesundheitswesen, einschließlich der Mediziner in der Lage sein müssen die Qualität der Studien zu beurteilen und deren Ergebnisse kritisch zu hinterfragen. Das Erlangen dieser Kompetenzen ist für jede moderne Ausbildung von Fachkräften im Gesundheitswesen unerlässlich und nicht zwingend mit einer akademischen Ausbildung verbunden.
Kompetenzorientierte Medizin als Lösungsansatz
Kompetenzorientierte Ausbildung als Grundlage
Ein vielversprechender Lösungsansatz ist die kompetenzorientierte, eigenständige Gesundheitserbringung durch medizinische Fachberufe. Dies würde Kompetenzen und Fachwissen medizinischer Fachkräfte besser nutzen und zu einer effizienteren und patientenzentrierteren Versorgung führen. Einen möglichen Ausweg bietet hierzu heute schon der sektorale Heilpraktiker, der in einigen Berufsgruppen die verkürzte Anerkennung und den Weg zur selbstständigen Heilkunde ebnet. Siehe hierzu unsere ausführliche Beschreibung: Selbstregie im Gesundheitswesen.
Die Erhöhung der Versorgungsqualität kann durch die Nutzung der speziellen Kompetenzen verschiedener Fachberufe erheblich gesteigert werden. Alle medizinischen Fachberufe bringen spezifisches Wissen und Fähigkeiten ein, die über das ärztliche Wissen hinausgehen und in vielen Fällen ärztliche Expertise wesentlich ergänzen. Dies führt zu einer umfassenderen und ganzheitlicheren Betreuung der Patienten.
Eine kompetenzorientierte Gesundheitserbringung kann auch die Arbeitsbelastung der Ärzte reduzieren. Indem spezialisierte Fachkräfte eigenständig arbeiten, können Ärzte sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren. Dies erhöht die Effizienz des Gesundheitssystems und verbessert die Arbeitszufriedenheit der Ärzte.
Die eigenständige Arbeit von Gesundheitsfachkräften ermöglicht zudem eine flexiblere und schnellere Reaktion auf die Bedürfnisse der Patienten. Durch die Erweiterung der im Gesundheitswesen bereitstehenden und wirksamen Kompetenzen kann die Gesundheitsversorgung wesentlich verbessert werden.
Durch Anerkennung und Förderung der persönlichen Kompetenzen werden Gesundheitsfachkräfte motiviert, sich kontinuierlich weiterzubilden und neue Fähigkeiten zu erwerben. Dies führt zu einer höheren beruflichen Zufriedenheit und trägt langfristig zur Bindung von Fachkräften an ihren Beruf bei.
Eine klar definierte Kompetenzverteilung trägt dazu bei, bürokratische Prozesse zu vereinfachen und unnötige administrative Hürden abzubauen. Dies schafft mehr Ressourcen für die tatsächliche Patientenversorgung und erhöht die Effizienz des Gesundheitssystems.
Ein solcher Ansatz könnte auch die gesamte akademische Ausbildung einschließlich der ärztlichen Bereiche zu ihren Ursprüngen zurückführen: der ganzheitlichen Formung des Individuums, welche über reine Wissensvermittlung hinausgeht. Die Ausbildung medizinischer Fachkräfte würde auch auf die Entwicklung persönlicher und sozialer Kompetenzen als integralen Bestandteil integrieren. Gleichzeitig würde die Betonung der Qualität und Bedeutung praktischer Fähigkeiten und interdisziplinären Lernens die akademische Ausbildung wieder stärker auf die Bedürfnisse der Patienten und Praxis ausrichten.
Beispiele bestehender kompetenzorientierter Beteiligung
Es gibt bereits erfolgreiche Modelle und Praxisbeispiele, die zeigen, wie eine kompetenzorientierte und eigenständige Gesundheitserbringung funktionieren kann. In Ländern wie den USA, Kanada und den Niederlanden haben Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Pflegekräfte erweiterte Befugnisse und können eigenständig Diagnosen stellen und Behandlungen durchführen. Diese Modelle zeigen, dass eine solche Herangehensweise nicht nur die Arbeitszufriedenheit der Fachkräfte erhöht, sondern auch die Qualität der Patientenversorgung verbessert.
In den Niederlanden beispielsweise dürfen Physiotherapeuten eigenständig Patienten aufnehmen, Diagnosen stellen und Behandlungspläne erstellen, ohne dass eine Überweisung durch einen Arzt notwendig ist. Dies hat zu einer effizienteren Nutzung der Gesundheitsressourcen und zu einer höheren Zufriedenheit sowohl bei den Patienten als auch bei den Fachkräften geführt.
Kompetenzorientierten Gesundheitserbringung statt Akademisierung
Eine kompetenzorientierte, eigenständige Gesundheitserbringung bietet im Vergleich zu einer primär akademisch orientierten Ausbildung entscheidende Vorteile. Statt der Fortführung universitärer Ansätze, die vor allem auf theoretische Fundierung und wissenschaftliche Methodik basieren, legt der kompetenzorientierte Ansatz den Schwerpunkt auf die Verbindung grundlegender evidenzorienter Ansätze sowohl theoretischer als auch praktischer Fachkenntnisse.
Die kontinuierliche Weiterentwicklung und Anerkennung der Kompetenzen von Gesundheitsfachkräften bietet auch die Grundlage einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Durch die Anerkennung spezifischer Fähigkeiten und des Fachwissens aller Berufsgruppen wird ein respektvolles Miteinander gefördert, in welchem jede Profession ihren Beitrag zur Patientenversorgung leistet. Diese Gleichstellung stärkt das Vertrauen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und ermöglicht eine effektive und effiziente Zusammenarbeit.
Indem die Kompetenzen der Gesundheitsfachkräfte kontinuierlich weiterentwickelt und anerkannt werden, können medizinische Fachkräfte ihre Fähigkeiten optimal einsetzen und sich in ihrem Berufsfeld weiterentwickeln. Dies führt nicht nur zu einer höheren Arbeitszufriedenheit, sondern auch zu einer gesteigerten Qualität der Patientenversorgung. Fachkräfte werden motiviert ihr Bestes zu geben und kontinuierlich nach Verbesserungen des Gesamtergebnisses zu streben.
Durch diesen Ansatz wird die Basis für ein Gesundheitssystem geschaffen, in dem die Zusammenarbeit auf Augenhöhe und der gegenseitige Respekt im Mittelpunkt stehen, was letztendlich zu besseren Ergebnissen für die Patienten führt.
Selbstständige Ausübung der Heilkunde
Ein weiterer wichtiger Ansatz wäre eine Reform der gesetzlichen Grundlagen zur selbstständigen Ausübung der Heilkunde in Deutschland. Die selbstverständliche Integration fachspezifischer Kompetenz sollte nicht nur Heilpraktikern eine selbstständige Ausübung der Heilkunde neben den Ärzten ermöglichen.
Das aktuelle Verständnis, das von ärztlichen Mitarbeitern umfassende Kompetenzen in allen medizinischen Bereichen erwartet, sollte zugunsten einer zielgerichteten Nutzung individueller Kompetenzen überdacht werden. Dies würde auch den Arztberuf attraktiver machen, da Ärzte sich wieder mehr auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und sich näher an ihrem beruflichen Selbstverständnis orientieren könnten.
Eine dringend erforderliche Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen würde es allen medizinischen Fachkräften ermöglichen, eigenverantwortlich und im vollen Umfang ihrer Ausbildung tätig zu sein. Dies würde nicht nur die Attraktivität der medizinischen Berufe insgesamt steigern, sondern auch die Qualität der Versorgung verbessern und das Gesundheitssystem effizienter gestalten.
Gesundheitsberufe – Eine Vision für 2050
Das Gesundheitssystem hat sich grundlegend verändert und ist auf Prävention, ganzheitliche Betreuung und interprofessionelle Zusammenarbeit ausgerichtet. Die Akademisierung hat sich weiterentwickelt und wurde um einen kompetenzorientierten Ansatz erweitert, der alle Gesundheitsberufe gleichberechtigt einbezieht.
In dieser idealen Zukunft arbeiten Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Heilpraktiker, Pflegekräfte und andere Gesundheitsfachkräfte Hand in Hand. Jeder bringt seine speziellen Fähigkeiten ein, und alle Berufe haben die Möglichkeit, ihre Kompetenzen voll auszuschöpfen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen wurden so angepasst, dass alle medizinischen Fachkräfte eigenverantwortlich arbeiten können. Dies führt zu einer höheren Arbeitszufriedenheit und einer verbesserten Patientenversorgung.
Präventive Maßnahmen und Gesundheitsförderung stehen im Mittelpunkt des Systems. Dank umfassender Aufklärungsprogramme und leicht zugänglicher Gesundheitsdienste ist die Bevölkerung gesünder und lebt länger. Regelmäßige Check-ups und präventive Behandlungen sind die Norm, und chronische Krankheiten werden frühzeitig erkannt und effektiv behandelt.
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Vision ist die Einbeziehung aller Aspekte der Evidenz. Neben studienbasierter Evidenz werden auch klinische Expertise und Patientenpräferenzen gleichermaßen berücksichtigt, um eine umfassende und maßgeschneiderte medizinische Versorgung zu gewährleisten. Diese ganzheitliche Herangehensweise stellt sicher, dass alle relevanten Erkenntnisse und Erfahrungen in die Entscheidungsprozesse einfließen.
Darüber hinaus orientiert sich das Verständnis der Akademisierung wieder stärker an ihren ursprünglichen Grundsätzen, wie sie von Humboldt und Platon im Verständnis einer ganzheitlichen Entwicklung geprägt wurden. In diesem modernen Ansatz werden Forschung und Lehre eng verzahnt und als unterschiedliche Bereiche anerkannt, die in ständiger Wechselwirkung stehen.
Bildung wird nicht nur als Vermittlung von Wissen verstanden, sondern auch als Formung des Charakters und Förderung sozialer Kompetenzen. Dies trägt dazu bei, dass die akademische Ausbildung nicht nur theoretisch fundiert ist, sondern auch praktische Fähigkeiten und interdisziplinäres Lernen betont. Durch diese Rückbesinnung auf ganzheitliche Bildungsideale wird eine umfassende und praxisorientierte Ausbildung gewährleistet, die den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft und des Gesundheitssystems gerecht wird.
In dieser Vision einer idealen Zukunft ist das Gesundheitssystem nicht nur effizienter und patientenorientierter, sondern auch menschlicher für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen . Die Zusammenarbeit auf Augenhöhe und der gegenseitige Respekt zwischen den verschiedenen Berufsgruppen schaffen ein Umfeld, in dem jeder sein volles Potenzial entfalten kann, zum Wohle der Patienten und der Gesellschaft.
Quellen und Verweise
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Hoerold, M., Gottschalk, M., Debbeler, C. M., Heytens, H., Ehrentreich, S., Braun-Dullaeus, R. C., & Apfelbacher, C. (2021). Healthcare professionals’ perceptions of impacts of the Covid-19-pandemic on outpatient care in rural areas: A qualitative study. BMC Health Services Research, 21(1), 1298. https://doi.org/10.1186/s12913-021-07261-y
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